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Al Qaida und der Streisand-Effekt

Was haben Al Qaida und Barbra Streisand gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, möchte man meinen, außer dass beide – die Schauspielerin/Sängerin wie die terroristische Vereinigung – im übertragenen Sinne Opfer des selben, vergleichsweise neuen Online-Phänomens wurden: Dem Streisand-Effekt.

Zur Erklärung: 2003 verklagte Barbra Streisand einen Fotografen und einen Webseitenbetreiber, weil auf deren Portal eine Luftaufnahme ihres Hauses zu finden war. Ergebnis: Durch die Klage wurden Medien und Bevölkerung erst auf das Foto neugierig, das ansonsten vermutlich vollkommen unbeachtet geblieben wäre. In der Folge verbreitete es sich viral im Netz, und Streisand hatte mit ihrer Klage das exakte Gegenteil von dem erreicht was ihr eigentliches Ziel gewesen war.

Nun mag der Vergleich ein wenig unbeholfen daher kommen, aber den Pariser Terroristen und ihren mutmaßlichen Al Quaida – Auftraggebern ging es im Grunde ähnlich. Der nach der obigen Begebenheit benannte „Streisand-Effekt“ bewirkt nämlich, dass der Versuch eine Information (oder Meinung) zu unterdrücken sie erst ins Zentrum des öffentlichen Interesses rückt, und genau das ist hier geschehen: Durch das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ erreichte ein Magazin weltweite Bekanntheit, von dem zuvor außerhalb Frankreichs kaum jemand gehört haben dürfte. Es bereitete eine Bühne für die kontroversen Karikaturen, die es vorher in diesem Maße schlicht nicht gegeben hätte.

Das Cover der neuen Ausgabe funktioniert auf vielen Ebenen – es ist ein Friedensangebot, es ist zugleich aber auch ein ausgestreckter Mittelfinger gegen jene die glauben, mit Gewalt ihren Anspruch auf die Allgemeingültigkeit einer Weltanschauung oder Meinung durchsetzen zu können. Und dass dieses Cover in der gesamten westlichen Welt nun die Runde macht, dass es gestern wie heute auf den Titel- und Internetseiten nahezu sämtlicher europäischer Tageszeitungen und Nachrichtenportale zu sehen ist,  dürfte den Verantwortlichen für das Attentat wohl die Galle ins Gesicht treiben. Als freiheitlich erzogener, demokratisch gesinnter Europäer kann man nicht umhin, dabei eine gewisse Häme zu empfinden.

Trotzdem möchte ich dieser Tage nicht in der Haut der überlebenden „Charlie“-Redakteure stecken. Ich hätte ihren Mut nicht, und ich empfinde tiefen Respekt dafür.

All jenen, die nun von Provokation und „Öl in die Flamme gießen“ reden: Ihr habt nicht verstanden, worum es geht, und was hier eigentlich auf dem Spiel steht. Dies ist, meines Erachtens, kein ‚Krieg der Religionen‘. Es geht auch nicht darum, ob diese Karikaturen beleidigend, respekt- oder geschmacklos sind. Ja, sie sind es wohl. Aber das ist nicht der springende Punkt. Es geht darum, dass Satiriker wie Journalisten oder Blogger so was dürfen müssen. Wer sich von der (künstlerischen) Äußerung eines anderen angegriffen fühlt, dem steht es in einem Rechtsstaat frei, sich mit den Mitteln eben jenes Rechtsstaates dagegen zu wehren. Und wer weiß – vielleicht bekommt er ja sogar recht!
Aber niemand darf dafür sterben müssen, dass er eine abweichende Meinung hat. In einem Klima der Angst und der Selbstzensur kann keine demokratische Kultur gedeihen. Es geht daher um die Verteidigung der Meinungsfreiheit als einen unserer höchsten demokratischen Grundwerte und darum, wie wir mit ihr umgehen. Es geht darum, denen, die sich durch sie bedroht fühlen, offen und mit erhobenem Kopf zu zeigen: Sie ist nicht veräußerlich, und sie steht nicht zur Disposition.

#jesuischarlie